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HISTORY

Zur Geschichte der Bahnstraße in Wiesenburg

Das Lok Hotel V 180 liegt nunmehr in der Bahnstraße 02, nachdem der Bahnhof Wiesenburg an selber Stelle ursprünglich die Bahnstraße 04 markierte.Das Lok Hotel V 180 liegt in der Bahnstraße 02. Die Bahnstraße in Wiesenburg ist eine junge Straße. Sie wurde erst kurz nach 1850 angelegt, als der Bau der Eisenbahnstrecke Zwickau – Schwarzenberg absehbar war. Bis dahin hatte es in der Muldenaue, die regelmäßig von Hochwassern überschwemmt wurde, in Wiesenburg nur Feldwege gegeben, die zu den Wiesen führten. Nur eines führte Menschen in dieser oft feuchten Landschaft zusammen: die Furt durch die Zwickauer Mulde bei Wiesenburg, die durch zwei kleine Inseln im Strom naturräumlich begünstigt wurde.

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Letztlich wegen dieser Furt ist es ganz und gar nicht neu, dass eine Herberge an der Muldenquerung Wiesenburg ihre Pforten öffnet, denn Rasthäuser standen seit langem an diesem Knotenpunkt des Verkehrs. Seit Jahrhunderten kreuzten sich an einer ehemaligen Furt durch die Zwickauer Mulde Verkehrswege. Zum einen führte links des Flusses die Nord-Süd-Fernverbindung von Zwickau über Silberstraße (vormals Neue Ruh) durch Wiesenburg in Richtung Erzgebirge. Zum anderen bildete die Wildenfels-Auerbacher-Chaussee, wie sie im 19. Jahrhundert hieß, die Ost-West-Magistrale. Zudem trafen sich an der Muldenfurt unterhalb des Schlosses der Kirchensteig, der Haara, Wiesen, Wiesenburg und Schönau verband, und der Narrensteig, der hart am linken Muldenufer Richtung Weißbach verlief. Dort, wo sich alle Straße und Wege trafen, lag die Hölle.

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Der Gasthof zur Hölle in Wiesenburg
Der Gasthof zur Hölle ist die mit Abstand älteste Restauration in Wiesenburg. Sie lag direkt an der Auffahrt auf die rund 50 Meter lange Muldenbrücke, die wohl schon seit dem späten Mittelalter den Fluss überspannte. Das älteste Bild von ihr zeigt eine überdachte und mit Holz verkleidete Konstruktion, die auf steinernen Pfeilern ruhte.

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Der Wirt im Gasthof zur Hölle durfte Reisenden nicht nur Obdach und Verpflegung bieten, sondern musste auch den Brückenzoll einnehmen. Diese und weitere mittelalterliche Rechte (Realgerechtsame) hafteten an dem Anwesen. Als erster Wirt einer Reihe von Gastronomen ist Simon Herttel 1589 bezeugt, als er und Andreas Dittrich aus Burkersdorf mit zwölf Groschen Strafgeld belegt wurden, „alldieweil sie sich geraufet und geschimpfet haben1“. Wegen regelmäßig wiederkehrender Hochwasser an diesem Standort war der Stall im Obergeschoss, die Gastwirtschaft im Erdgeschoss eingerichtet. 1823 wurde das Haus von Adam Gottfried Schubert abgerissen und neu erbaut und erlebte seine Blüte als Einkehrstätte bis 1856, als der Bau der Obererzgebirgischen Bahn von Zwickau nach Schwarzenberg begann und auch große Teile des Gasthofsgrundstücks beanspruchte. Seitdem fristete das zwischen Schlossberg und Bahnlinie eingezwängte Refugium als Fleischerei und Wohnhaus sein Dasein bis 1988, als die baufällige Ruine abgerissen wurde.

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Die Bahnhofs-Restauration Wiesenburg (später Gasthof zur Eisenbahn)
Einen Steinwurf entfernt von der Hölle weihte deren Wirt Carl Krügel Mitte 1858, als auch die Bahnstrecke Zwickau-Schwarzenberg in Betrieb ging, sein neu errichtetes Etablissement ein, die Bahnhofs-Restauration Wiesenburg. 1862 erwarb sie Johann Gottlieb Ferdinand Kämpfe. Die Wirtschaft florierte, wie Um- und Anbauten 1866 und 1884 belegen.

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Von 1887 bis 1904 gehörte das Gasthaus Emil Heinze, der es 1904 an den Zwickauer Max Gottschall veräußerte. Seitdem firmierte das Haus als Bahnhofs-Hotel Schloss Wiesenburg.

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1923 kaufte der Gastwirt Richard Pöhler den Gasthof, der aus Saal, Vereinszimmer, Garten, Fremdenzimmer, Autogaragen und Mietwagenverleih bestand. Richard Pöhler war Kind bayerischer Einwanderer, die sich in Zwickau niedergelassen hatten, und wohnte als Ziehsohn der kinderlosen Familie Gottschall in Wiesenburg . Am 17. April 1945 traf eine amerikanische Fliegerbombe den Gasthof, und der hintere Teil des Saales und das Vereinszimmer wurden zerstört, der Bahnhof als anvisiertes Ziel nur wenig verfehlt. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Schäden umgehend beseitigt. Ab 1956 bewirtschaftete der Gastwirt Paul Günther als Pächter die Einrichtung. „Es gab regelmäßig Tanzveranstaltungen, die bestens besucht waren. Es spielten auch Spitzenorchester wie Kurt Schulz, Lothar Schmidt, Walter Rietschel u. a. … Außerdem gab es Auftritte des von Artur Hertel gegründeten Schulchors und der Kulturgruppe. Nicht zu vergessen sind die Kinoveranstaltungen des Landfilms, die zweimal wöchentlich auf dem Saal stattfanden“. 1974 wurde der Saal wegen baulicher Mängel gesperrt und 1988 das marode Bauwerk nach 132 Jahren abgerissen.

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Das Bier- und Kaffeehaus zur Muldenbrücke (später Café Oschatz)

1878, als die Bahnhofsrestauration Wiesenburg 20 Jahre alt war, entstand keine 50 Meter entfernt von ihr ein Konkurrenzbetrieb. Jenseits der Bahnlinie und direkt an der Zwickauer Mulde gelegen, ließ Karl Gottlob Krügel aus Neustädtel das „Bier- und Kaffeehaus zur Muldenbrücke“ errichten, an das sich gen Norden ein großräumiges Gartenrestaurant anschloss. Der Bauherr investierte hier in sein Etablissement „Zur Muldenbrücke“, da genau an dieser Stelle seit 1871 eine neue steinerne Brücke die Mulde querte, die die etwa 100 Meter südlich gelegene, 1858 vom Hochwasser weggerissene Höllbrücke ersetzte. Die Gründerzeit des neuen deutschen Reiches war schnell auf dem Lande angekommen. Auch schien die zunehmende Bevölkerung Wiesenburgs – von 373 im Jahre 1834 auf 820 im Jahre 1870 bis zu 997 im Jahre 1890 – mehrere Gastwirtsfamilien zu ernähren.

August Kölbel als neuer Besitzer seit 1892 erweiterte das Anwesen um einen Flachbau.

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1901 wurde der Flachbau aufgestockt und erneut angebaut. Hermann Arthur Oschatz übernahm die Restauration im Jahre 1914. Unter ihm wurde das nunmehrige Café Oschatz berühmt für hervorragende Konditoreiwaren. Die erste in Wiesenburg bezeugte Tankstelle, eine Zapfsäule im Handbetrieb, stand 1931 vor seinem Haus.

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Ab den 1930er Jahren war der Gasthof Zur Muldenbrücke Treffpunkt der NSDAP-Ortsgruppe Wiesenburg. Nur in diesem Lichte ist zu verstehen, dass die Immobilie nach Kriegsende im Zuge der Entnazifizierung enteignet und das Restaurant geschlossen wurde. Ab 1945 diente das Gebäude als Wohnhaus. Die Fahrschule von Matthias Joram bezog hier am 01. Juli 1990 ihr erstes Domizil.

Die Historie der vier Herbergen an der Muldenquerung Wiesenburg zeigt, wie Formen und Ausstattungen nicht nur der Restaurationen im Laufe der Zeit sich wandelten an diesem seit Jahrhunderten gewachsenen Knotenpunkt des Verkehrs mit seinen typischen, aber zeitabhängigen Merkmalen: Furt, später Brücke, geschützt von der Burg; Wegekreuzung; Meilensäule; Wegweiser; Chausseegeldeinnahmestelle; Floßplatz an der Mulde (heute Weißbacher Straße 01); Bahnhof; Postagentur; Landwarenhaus und Warenlager; Bushaltestelle und Tankstelle.

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Was die Stunde geschlagen hat, wird Einheimischen wie Reisenden seit Jahrhunderten gewiesen von der nahen Turmuhr der St.-Rochus-Kirche zu Schönau. Als die Eisenbahn 1858 den Ort eroberte, wurden Minuten wichtig, und so tat seither eine Bahnhofsuhr treu ihren Dienst. Ein Relikt aus analoger Zeit, gebaut vom VEB Gerätewerk Leipzig und inzwischen saniert, steht auf einem umgebauten, aber originalen Signalmast neben dem Lok-Hotel V 180. Sie hatte ursprünglich über Jahrzehnte ihren Platz zwischen den beiden Bahnsteigen in Wiesenburg. Inzwischen ist die Zeit digital geworden. Auf dem 2008 neu errichteten Haltepunkt Wiesenburg der Bahn flimmert sie einem als Zahlencode entgegen.

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Ja, sogar die Zeit geht mit der Zeit. Alles bleibt anders, auch am Muldenübergang in Wiesenburg.

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